Flüchtlinge leiden unter den aktuellen rechtlichen Regelungen zum Familiennachzug

Offener Fachtag „Flucht und Familie“ hat in Bonn stattgefunden

Ein starker Unmut gegenüber der derzeitigen Rechtslage bei der Familienzusammenführung für Flüchtlinge unter subsidiärem Schutz wurde in den Beiträgen der Referenten und den Wortmeldungen der Tagungsteilnehmerinnen und Tagungsteilnehmer beim Fachtag „Flucht und Familie“ deutlich, der am 23. November in Bonn stattfand.

Zum Fachtag im Haus der Geschichte hatten die Evangelische Akademie im Rheinland und die Evangelische Kirche im Rheinland eingeladen, um die schwierige Lage der Geflüchteten und ihrer Familien zu beleuchten. Mehr als 60 haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus der Flüchtlingsarbeit nutzten den Tag zu Information und Austausch. Bei allen waren das Engagement und die Empathie für die schwierige Lage der Geflüchteten spürbar.

Familie ist in allen Kulturen und Völkern identitätsstiftend
„Integration und Migration sind Themen, die aktuell unsere Gesellschaft spalten“, so Studienleiter Jörgen Klußmann im Blick auf die aktuelle politische Lage. Gleichzeitig unterstrich er bei seiner Begrüßung die Bedeutung der Familie für jede und jeden Einzelnen von uns: „Egal, wo wir uns auf der Welt befinden – überall ist die Familie das Rückgrat der Gesellschaft aller menschlichen Kulturen und Völker.“ Vor diesem Hintergrund kann man ermessen, so Klußmann, wie schwierig die Lage von Geflüchteten ist, die von ihrer Familie getrennt hier leben und für die immer noch in der Schwebe ist, wann ihre Ehepartner oder ihre Kinder nachkommen können.

Die rheinische Kirche setzt sich für die Integrität der Familie ein
„Dass Familien in Frieden zusammen leben können, dafür setzt sich die Evangelische Kirche im Rheinland schon seit langem ein, sowohl in ihren Verlautbarungen und Beschlüssen als auch in der konkreten Begegnung von Engagierten mit Geflüchteten vor Ort. Denn die Integrität der Familie ist für uns aus unserer christlichen Identität heraus unaufgebbar und menschenrechtlich geboten. Und was überhaupt nicht geht, ist eine Zerteilung dieses Rechtes – für die einen gilts, für die andern nicht“, unterstrich Julia Köhler, juristische Referentin für Migration und Flucht bei der Landeskirche.

Familiennachzug ist für subsidiär Geschützte bis März 2018 ausgesetzt
Denn nicht jeder Asylsuchende, der nach Deutschland kommt, erhält ohne weiteres die Anerkennung als Flüchtling gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention. Hierzu muss nachgewiesen sein, dass „sein Leben oder seine Freiheit in seinem Herkunftsland wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist.“ Asylsuchende, denen als Person ernsthafter Schaden im Heimatland droht, erhalten unter bestimmten Voraussetzungen lediglich den sogenannten subsidiären Schutz.

Das ist aber mit Einschränkungen der Rechte verbunden: Während anerkannte Flüchtlinge ihre Familien nachkommen lassen können, ist der Familiennachzug für international subsidiär Schutzberechtigte seit dem 17. März 2016 für zwei Jahre ausgesetzt. Dann soll das Parlament wieder darüber beraten. Wie ungewiss der Ausgang dieser Beratungen möglicherweise ist, haben die vergangenen Tage sehr deutlich gemacht. Die Regelungen des Familiennachzugs haben bei den gescheiterten Sondierungen zwischen CDU, CSU, FDP und Grünen eine zentrale Rolle gespielt und gestern, am Tag der Veranstaltung, gab es neue Meldungen, dass sowohl CDU als auch FDP für eine Verlängerung der Regelung eintreten wollen.

Flüchtlinge leiden unter den aktuellen rechtlichen Regelungen zum Familiennachzug
„Die aktuelle rechtliche und tatsächliche Situation beim Familiennachzug produziert unmenschliches Leid! Frauen und Kinder warten vergeblich auf Botschaftstermine, Väter bangen um ihre Familie. Minderjährige können zwar ihre Eltern, nicht aber Geschwister nachholen oder werden volljährig und haben so gar keine Möglichkeit mehr auf Familienzusammenführung.“ Mit diesen Beispielen skizzierte Julia Köhler die aktuelle Situation der subsidiär Geschützten.

Volker Maria Hügel:
„Die derzeitigen Dramen rund um den Familiennachzug müssen beendet werden“

Die gesetzlichen Regelungen, die zu dieser konfliktreichen Lage führen, legte Volker Maria Hügel  von der Gemeinnützigen Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender e.V. in Münster detailreich und sachkundig dar. Klar formulierte er seine Forderung: „Die derzeitigen Dramen rund um den Familiennachzug müssen beendet werden – die überlange Dauer der Verfahren, die Familientrennungen, Scheitern und Ausschluss vom Familiennachzug, das Volljährigkeitsloch“, das Jugendliche über 18 Jahren vom Familiennachzug ausschließt. Denn der besondere Schutz von Ehe und Familie sei durch das Grundgesetz garantiert: „Artikel 6 des Grundgesetzes darf nicht im Mittelmeer entsorgt werden“, schloss Hügel seinen Vortrag, in dem er seine Wut und seinen Ärger über die fehlende Bereitschaft zu Nachbesserungen von Seiten der Politik und Verwaltung Ausdruck gab.

„Vieles an den aktuellen Diskussionen ist zeitgeistlich“
Noch vor wenigen Jahren habe er dort die Bereitschaft gespürt vom Flüchtling aus zu denken, doch seit den Vorkommnissen in Köln in der Silvesternacht 2015 habe sich der Wind gedreht, so Hügel. Vieles an den aktuellen politischen Diskussionen sei „zeitgeistlich“, die Diskussion um die Einführung einer Flüchtlings-Obergrenze hätte auch die Bemühungen im Bereich Familiennachzug beeinträchtigt.

„Durch Lobbyarbeit und Vernetzung Einfluss nehmen“
„Sie haben das ganze Bild gezeigt“, dankte ihm ein Teilnehmer für den Überblick über die komplexe Rechtslage und fragte: „Wie gehen wir damit um?“ Um rechtliche und verfahrenstechnische Veränderungen zu bewirken, sei es wichtig, sich zu vernetzen und Lobbyarbeit zu betreiben, so Hügel, der auch Mitglied im Bundesvorstand von ProAsyl ist und die Menschenrechtsorganisation in der Härtefallkommission des Landes Nordrhein-Westfalen vertritt: „Klein anfangen, sich vernetzen, aber in großen Zusammenhängen denken“.

Michael Ton, Deutsches Rotes Kreuz. Foto: Hella Blum

Schätzungen, dass bis zu 750 000 Menschen im Rahmen des Familiennachzugs nach Deutschland kommen könnten, sind viel zu hoch
Im Anschluss berichtete Michael Ton, Jurist vom Deutschen Roten Kreuz, von seinen Erfahrungen in der praktischen Arbeit bei der Familienzusammenführung. Ton trat aktuell kursierenden, hohen Zahlen beim Familiennachzug entgegen: Derzeit könne davon ausgegangen werden, dass bei einer Aufhebung des Stopps im März 2018 zwischen 60000 und 80000 Menschen im Rahmen des Familiennachzuges nach Deutschland kommen würden, so Ton. Unter den subsidiär Geflüchteten seien viele alleinstehende junge Männer, aber auch Kleinfamilien. Der Familiennachzug käme für beide Gruppen nicht in Betracht. Zwar stehe aktuell noch nicht ausreichend Wohnraum für die im Rahmen des Familiennachzugs zu erwartenden Menschen zur Verfügung, „aber das ist machbar“.

„Eine Verlängerung des Stopps im Familiennachzug würde tragenden Konventionen widersprechen“
Eine Aufhebung des bis März 2018 geltenden Stopps im Familiennachzug hält der Jurist trotz allem für wahrscheinlich. Er verweist  dabei auf eine Stellungnahme des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags. Eine dauerhafte Aussetzung des Familiennachzuges würde danach gegen tragende Konventionen, und zwar insbesondere gegen den Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtkonvention,  gegen das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, verstoßen. Deshalb sei es bei der Beratung von Flüchtlingen, die ihre Familie aus den Krisengebieten nachkommen lassen wollen, sinnvoll, ihnen zu empfehlen bereits jetzt die Anträge zu stellen. Härtefälle wie z.B. eine schwerwiegende Erkrankung eines Familienmitgliedes könnten darüber hinaus jederzeit direkt beim Auswärtigen Amt vorgetragen werden. Immerhin 100 dieser Härtefälle seien im letzten Jahr im Sinne der Geflüchteten entschieden worden.

Notwendig sind raschere Bearbeitung, bessere Beratung, Beseitigung von Gesetzeslücken
Wie Hügel hält Ton es für wichtig, dass sich Zivilgesellschaft und Kirchen in die Debatte um die Flüchtlingspolitik aktiv einbringen. Notwendig sei es z.B., auf eine raschere Bearbeitung der Anträge, eine bessere Beratung von Familienangehörigen durch die Botschaften vor Ort und auf die Beseitigung von Lücken in bestehenden Regelungen zu drängen. So sei der nicht geregelte Geschwisternachzug bei anerkannten Flüchtlingen, die als unbegleitete Minderjährige nach Deutschland gekommen sind, ein großes Thema. Der Nachzug ihrer Eltern sei möglich, der Nachzug ihrer Geschwister aber nur unter hohen Auflagen. So müssen z.B. genügend Wohnraum und ein gesicherter Familienunterhalt nachgewiesen werden. De facto führe dies häufig zur Trennung der Eltern; ein Elternteil bleibe im Herkunftsland, um sich um die Geschwister zu kümmern

Plädoyer für ein bundesweites, gemeinsames Engagement der Kirchen
Doch gebe es nicht in allen Landeskirchen es ein eindeutiges Engagement für subsidiär Geschützte. Mit Blick auf sein Heimatland Sachsen meinte Ton: „Kirchliche Unterstützer für eine familienfreundliche Flüchtlingspolitik haben es schwer in Sachsen“, auch wenn sich Diakonie und Caritas engagiert zu Wort melden. Er würde es begrüßen, wenn z.B. die rheinische Kirche die Initiativen dort unterstützen würde.

Studienleiter Jörgen Klussmann und Julia Köhler; EKiR, bei der Begrüßung. Foto: Hella Blum

Vertiefung zu einzelnen Aspekten in den Workshops
Am Nachmittag schlossen sich drei von Expertinnen und Experten geleitete Workshops an, die einzelnen Aspekte aufgriffen, und zwar die aktuelle Situation und aktuelle Schwierigkeiten in der Flüchtlingsarbeit, die Familienzusammenführung aus psychosozialer Sicht und die besondere Situation von Minderjährigen.