Groß und holzgetäfelt ist die „Bibliothek“ im Gebäude der Präsidentin. An den Seiten befinden sich Vitrinen, vorn thront das Staatswappen und die Nationalflagge. Statt Büchern stehen in den Vitrinen Geschenke an das Staatsoberhaupt. Neben Holzschnitzereien finden sich gusseiserne riesige Schlüssel oder Linolschnitte und andere Dinge, die einst der Präsidentin oder ihren Vorgängern überreicht wurden. Der Raum gibt sich ausgesprochen repräsentativ und dient uns als Konferenzzimmer im Gespräch mit drei Beratern der moldawischen Präsidentin Maia Sandu. Er befindet sich auf halber Höhe des Hochhauses mitten im Zentrum von Chisinau, der Hauptstadt der Republik Moldau (Moldawien). Wir, das sind rund dreißig Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer von der Bundeszentrale für politische Bildung organisierten Bildungsreise nach Moldawien – die Mehrzahl davon Journalisten.
Als die Berater erscheinen, stellen sie gleich zu Beginn klar, dass dies ein informelles Gespräch ist und wir sie nicht namentlich zitieren dürfen. Die Atmosphäre ist angespannt, auch wenn man sich sichtlich um eine lockere Atmosphäre bemüht. Das Bild, das sie von Moldawien zeichnen, deckt sich mit dem Eindruck, den wir bereits während der Vorbereitung zur Reise durch Lektüre und Diskussionen gewinnen konnten: Moldawien ist ein Frontstaat. Eingeklemmt zwischen West und Ost grenzt es im Osten an die Ukraine und im Westen an Rumänien. Seit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine gilt dieser Zustand umso mehr: Denn als ehemalige Sowjetrepublik, die sich 1991 mit dem Zerfall der Sowjetunion für unabhängig erklärte, ist der östliche Teil Moldawiens – Transnistrien – bis heute noch von russischen Soldaten besetzt. Mit dem Krieg im Nachbarstaat ist die Befürchtung gewachsen, dass sich Russland nicht nur die Ukraine, sondern auch Transnistrien und womöglich auch den Rest der kleinen Republik einverleiben will.
Dass diese Befürchtungen keine Schreckgespinste sind, zeigt ein Blick zurück auf die Geschichte der jungen Republik: Nach der Unabhängigkeitserklärung spaltete sich Transnistrien ab und erklärte die eigene Unabhängigkeit. Als moldawische Truppen dies verhindern wollten, kam es zu militärischen Auseinandersetzungen, in denen die russischen Truppen auf Seiten Transnistrien eingriffen. Die Kämpfe dauerten fast ein halbes Jahr und forderten mehr als 500 Tote.
Heute ist die Situation zwar deutlich entspannter – fast 80 Prozent der Einwohner Transnistriens haben auch einen moldawischen Pass, der Warenverkehr wird seit dem Krieg in der Ukraine vollständig über Chisinau abgewickelt und auch sonst geht in Transnistrien fast nichts ohne den „großen Bruder“. Doch gibt es andere, neue Herausforderungen:

Seit 1991 pendelt die Republik wie viele andere ehemalige Sowjetrepubliken oder Ostblockstaaten zwischen pro-russischer und pro-europäischer, respektive pro-westlicher Politik. Mit der Amtsübernahme von Präsidentin Maia Sandu und ihrer Partei PAS (Partei für Aktion und Solidarität) 2021 hat sich vorerst der pro-europäische Kurs durchgesetzt. Mit der Regierung von Ministerpräsident Dorin Recean, dem ehemaligen Sicherheitsberater von Sandu, sitzt ein Parteifreund der Regierung vor. Die Mehrheit im Parlament hat den pro-europäischen Kurs gefestigt. Ein großer Erfolg ist die Anerkennung als Beitrittskandidat der EU im Juni diesen Jahres.
Dieser Erfolg beflügelt auch die drei Berater, denen wir gegenübersitzen und die sich in lobenden Worten besonders über Deutschland fast überschlagen, das bei dem Erlangen des Status als Beitrittskandidat maßgeblich mitgewirkt hat.
Doch die Hoffnungen der Pro-Europäer werden sich trotz aller sichtbaren Erfolge (Millionen-Hilfe während der Energiekrise, Wiederaufbau der Infrastruktur, Kulturaustausch, um nur einige zu nennen) am 20. Oktober 2024 einem Stresstest unterziehen müssen. An diesem Tag ist die Präsidentschaftswahl angesetzt und gleichzeitig findet ein Referendum statt, in dem Bürgerinnen und Bürger darüber entscheiden sollen, ob sie in die EU wollen oder nicht.
Während sich unsere Gesprächspartner optimistisch zeigen, dass Maia Sandu wiedergewählt wird und eine pro-europäische Mehrheit zustande kommt, hören wir von Studenten, die wir später treffen, dass es durchaus auch anders kommen könnte. Die russische Propaganda sei allgegenwärtig und schaffe durch Desinformation, Fake News und auch Sabotage enorme Unsicherheit im Lande. Das Vertrauen der Bevölkerung in eine schnelle Angliederung an den Westen, den sich insbesondere die große Diaspora wünscht, die in der EU arbeitet und Geld verdient, wird durch diese Art der hybriden Kriegsführung immer wieder erschüttert.
Relativ neu sind auch die Unabhängigkeitsbestrebungen der Region Gagausien im Südosten des Landes, das von der gleichnamigen ethnischen Minderheit zu über achtzig Prozent bewohnt wird. Dort hat sich bei den letzten Gouverneurswahlen eine zuvor völlig unbekannte Politikerin durchgesetzt, die einen klar pro-russischen Kurs fährt und von dem landesweit gesuchten Oligarchen Ilan Sor mit Geld unterstützt wird. Dieser hatte 2014 einige moldawische Banken um eine Milliarde US-Dollar erleichtert und sich danach nach Israel und anschließend nach Russland abgesetzt. Er wurde in Abwesenheit zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt.
Während der Einfluss Russlands über diverse Kanäle weiter wirkt, bemühen sich die EU und der Westen auf der anderen Seite nach Kräften die pro-europäische Regierung und Präsidentin Maia Sandu zu unterstützen. Die Atmosphäre schwankt entsprechend zwischen Aufbruch, Resignation, Modernisierung und Zerfall. Der Krieg hat die Lage weiter verkompliziert. Die zahlreichen Flüchtlinge aus der Ukraine belasten das bitterarme Land ebenso wie die drastisch gestiegenen Energiekosten und die hohe Inflation.
Auf meine Frage an die Berater, ob es denn einen Plan B gebe, wenn die Annäherung an die EU scheitern würde, gibt es denn auch nur eine lapidare Antwort: „Es gibt keinen Plan B, sondern nur einen einzigen Plan und der lautet: Europa, Europa, Europa!“