Zukunft der Religionsgemeinschaften in Europa

Prof. Dr. Hans Joas, Chicago/USA und Max-Weber-Kolleg, Erfurt

Die Werkstatt „Religion in Europa“ auf dem 31. Deutschen Evangelischen Kirchentag 2007 in Köln wurde von den Evangelischen und Katholischen Akademien sowie weiteren Partnern ausgerichtet.

Professor Dr. Hans Joas

„Welche Rolle werden die Religionen zukünftig in Europa haben?“

Das war die zentrale Frage dieser Werkstatt. Antworten darauf gaben die eingeladenen Referentinnen und Referenten aus unterschiedlichen Perspektiven:

Aspekten der Politik folgten Überlegungen zu Kultur und Religion, bis schließlich im Themenfeld „Werte“ die persönliche Sicht des Einzelnen zur Sprache kam.

Abschlussvortrag von Professor Dr. Hans Joas hier als Download bereitgestellt 

Abschließend wagte Professor Dr. Hans Joas eine Prognose zur „Zukunft der Religionsgemeinschaften in Europa“.
Joas ist Professor für Soziologie und Sozialphilosophie an der Universität Erfurt und der University of Chicago. Zudem leitet er das Max-Weber-Kolleg in Erfurt. Sein Vortrag ist am Schluss dieses Artikels zum Download eingestellt.

ebenfalls hier nachzulesen: Interview mit Professor Dr. Hans Joas in Publik Forum

Bereits im Vorfeld des Kirchentages führte das ökumenische Magazin Publik Forum ein Gespräch mit Hans Joas, das wir ergänzend zum Vortrag von Professor Joas mit freundlicher Genehmigung von Publik Forum hier bereitstellen.

Im Mittelpunkt des Interviews standen zwei Fragen:
Was hält die Europäische Union zusammen?
Wie wichtig ist die Religion?

Publik-Forum: In der Sozialwissenschaft wird darüber diskutiert, ob es in Deutschland und Westeuropa eine Renaissance der Religion gibt. Was meinen Sie?

Hans Joas: Das Religiöse war nie verschwunden. Was als »Wiederkehr des Religiösen« beschrieben wird, ist eine Aufmerksamkeitsverschiebung in der Öffentlichkeit und in den Medien, die sich vermehrt mit Religion befassen. Dafür sehe ich vier Gründe: An erster Stelle ist die Politisierung des Islam zu nennen. Hinzu kommen die politischen Diskurse über eine EU-Verfassung, über den möglichen EU-Beitritt der Türkei und über die Integration muslimischer Einwanderer. Begleitet werden sie durch eine geistige Entwicklung, die zwei markante Aspekte aufweist: die Erschütterung der These, das Religiöse werde infolge der Säkularisierung verschwinden; und etwas Weiteres, das Verebben einer intellektuellen Strömung, die behauptet hatte, kulturelle Vielfalt sei als solche begrüßenswert, dabei aber die Frage nach den ethischen und kulturellen Fundamenten der Gesellschaft aus den Augen verlor: die Frage nach einem Wertekonsens, der ein plurales Miteinander ermöglicht und trägt.

Publik-Forum: Bedarf es für einen solchen Wertekonsens einer religiösen Fundierung? Das jedenfalls unterstellen all diejenigen, die für einen Gottesbezug in der europäischen Verfassung streiten.

Joas: Für mich ist es selbstverständlich, dass religiöse Menschen den Wunsch haben, in der europäischen Verfassung eine Bezugnahme auf das zu finden, was im Mittelpunkt ihres ganzen Selbst- und Weltbildes steht: auf Gott. Dabei steht aber außer Zweifel, dass wir in Gesellschaften leben, in denen es keineswegs selbstverständlich ist, dass alle Menschen gläubig sind – geschweige denn denselben Glauben teilen. Deswegen müsste für die europäische Verfassung eine Formulierung gefunden werden, die den Gottesbezug für die Religiösen auf eine Weise artikuliert, aber zugleich den Nichtreligiösen das Gefühl gibt, nicht bevormundet zu werden.

Publik-Forum: Das klingt nach der Quadratur des Kreises.

Joas: Aber nein, ein solcher Weg wurde schon einmal begangen – und zwar in der Präambel der polnischen Verfassung, die sinngemäß sagt: »Wir, die wir uns diese Verfassung geben, teilen die folgenden Werte miteinander – die einen aus ihren religiösen Überzeugungen, die anderen aus ihren Wertüberzeugungen und historischen Erfahrungen.« Das ist eine weise Formulierung, denn für das Miteinander in einem Gemeinwesen entscheidend sind die geteilten Werte und nicht die intellektuellen, religiösen oder auch erfahrungsbasierten Grundlagen für die Bindung an diese Werte. Eine Präambel, die dies zum Ausdruck bringt, würde ich mir auch für die EU-Verfassung wünschen.

Publik-Forum: Das würde aber voraussetzen, dass die Europäische Union tatsächlich eine gemeinsame Wertebasis hat. Genau das aber scheint angesichts der großen kulturellen und religiösen Vielfalt in Europa fraglich.

Joas: Das ist richtig, aber wir müssen uns klarmachen, dass wertbezogene Verfassungssätze keine Tatsachenfeststellungen sind. Denken Sie etwa an unser Grundgesetz: Es sagt: »Die Würde des Menschen ist unantastbar«, obwohl seine Autoren genau wussten, dass die Würde des Menschen sehr wohl antastbar ist und die Men-schenwürde in Deutschland mit Füßen getreten wurde. Ich denke, dass auf eine ähnliche Weise gemeinsame europäische Werte formuliert werden können: nicht in dem Sinne einer Festschreibung der historisch verwirklichten Wertebasis, sondern als Formulierung der Werte, zu denen man sich bekennt und die man gemeinsam zu realisieren wünscht.

Publik-Forum: Nun ist die Menschenwürde ein universaler Wert, der mit Sicherheit nicht allein in Europa gilt. Das wirft die Frage auf ob es überhaupt so etwas wie »europäische Werte« gibt.

Joas: Es wäre unzutreffend, bestimmte Werte allein für Europa zu reklamieren. Allenfalls wird man sagen können, dass das Bewusstsein für bestimmte Werte infolge der europäischen Geschichte hier in besonderem Maße ausgeprägt ist. So ist Europa seit der Antike immer ein in sich differenziertes Gebilde geblieben – und zwar trotz verschiedener, gescheiterter Anläufe zur Einheitsbildung. Das heutige Europa ist dadurch – ohne dass dies beabsichtigt gewesen wäre – zu einer Einheit in Vielfalt geworden. Entsprechend sind Wertschätzung von Pluralität, Toleranz und Akzeptanz sehr europäische Werte.

Publik-Forum: Haben Sie den Eindruck, dass diese Werte in der Breite der europäischen Bevölkerung anerkannt sind?

Joas: Im Großen und Ganzen ja – und zwar aus Einsicht und nicht aus ideologischen Motiven oder egoistischen Interessen. Aber das entlastet niemanden von der Aufgabe, immer wieder für diese Werte zu werben und ihre normative Geltung einzufordern. Das aber nun nicht – wie es teilweise in den Verlautbarungen des gegenwärtigen Papstes anklingt -, weil Europa von einem Werteverfall gezeichnet wäre, sondern weil es in der Natur der Werte liegt, in immer neuen Diskursen angeeignet werden zu müssen. Dafür ist es sinnvoll, an die tatsächlich vorhandenen Potenziale wertorientierten Handelns anzuknüpfen, um so die Motivation zu einem entsprechenden Handeln in den Herzen der Menschen zu verankern.

Publik-Forum: Ist das eine Aufgabe der Kirchen?

Joas: Ja, denn das große Problem jeder säkularen Moral besteht darin, keine starken Gründe dafür angeben zu können, warum man überhaupt wertorientiert handeln soll. Und eine Rechtsordnung kann zwar Menschen zu moralischem Handeln anhalten, aber sie kann aus sich heraus nicht die Zustimmung zu bestimmten Werten und Normen bewirken. Das kann aber die Religion. Ihre große Stärke liegt darin, dass sie aus dem Glauben heraus zu wertorientierten Handlungen motiviert.

Publik-Forum: Das klingt, als hätten die christlichen Kirchen nachgerade die Pflicht, die Wertebasis Europas zu legen.

Joas: Das wäre zu viel gesagt. Gewiss haben die christlichen Kirchen – genau wie die muslimischen Gemeinden und andere religiöse Institutionen – die Aufgabe, aus ihrer Tradition und aus ihren Begründungszusammenhängen heraus zu den tragenden europäischen Werten zu motivieren. Damit ist aber nicht gesagt, dass nicht auch andere Motivationen aus säkularen Weltbildern möglich und willkommen wären.

Publik-Forum: Das verlangt von Kirchen und religiösen Institutionen, außer den eigenen auch andere Begründungen für die Einheit in der Vielfalt Europas gelten zu lassen.

Joas: In der Tat fordert das Miteinander im Pluralismus diese Akzeptanz. Sie gründet in der Einsicht, dass man ein authentisches Verhältnis zu Gott nur unter Bedingungen der Freiheit entwickeln kann – dass man von seinem Glauben her wollen muss, dass alle Menschen Bedingungen genießen, unter denen auch sie ein authentisches Verhältnis zu Gott leben können. Diesen Lernprozess hat die katholische Kirche erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil vollzogen, und im Islam gibt es derzeit bestenfalls Ansätze dazu. Aber mir ist wichtig zu betonen, dass sich weder Muslime noch Christen in einen inneren Widerspruch verwickeln, wenn sie einer anderen Religion zugestehen, eigene Begründungen für geteilte Werte geltend zu machen.

Publik-Forum: Politisch hieße das: Die Türkei kann der Europäischen Union beitreten, wenn sie glaubhaft versichert, dass sie sich aus ihrer eigenen Kultur und Religion heraus den Werten Europas verpflichtet weiß.

Joas: Dass die Türkei keine christlich geprägte Kultur hat, spricht in keiner Weise gegen ihre Aufnahme in die EU. Denn wer immer deren Werte teilt, ist willkommen. Im Islam als solchem liegt kein Ausschlussgrund für den Beitritt zu einer politischen Institution. Ein Ausschlussgrund läge jedoch dort vor, wo jemand – egal ob aus muslimischen, christlichen oder anderen Gründen – Demokratie und Rechtsstaat, Toleranz und Pluralismus infrage stellt.

Erschienen in Publik Forum . Zeitung kritischer Christen, Nummer 10/25. Mai 2007
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages