Das christliche Abendland – Historische Realität oder Chimäre?

Reihe der Evangelischen Erwachsenenbildung: Bildung gegen Rechts!

Der Begriff „Christliches Abendland“ stand im Mittelpunkt eines Vortrags- und Diskussionsabends in Gummersbach, zu dem die Evangelische Akademie im Rheinland und der Kirchenkreis an der Agger eingeladen hatten.

Der Islam- und Politikwissenschaftler Jörgen Klußmann (Evangelische Akademie im Rheinland) hat bei einem Gespräch im Rahmen der Erwachsenenbildung im Kirchenkreis An der Agger über den Begriff „Christliches Abendland“ referiert. Oft wird der Begriff unbefangen genutzt als Synonym für „christliche Werte“. Dass diese beiden Begriffe jedoch keine Synonyme sind, machte Klußmann deutlich, bei seiner Reise durch die Begriffsgeschichte, auch im Hinblick auf eine aktuelle Instrumentalisierung von Rechtspopulisten.

Der Begriff fußt nicht auf historischen Fakten, wies Klußmann nach, sondern wurde im Laufe der Jahrhunderte je nach politischer Lage unterschiedlich genutzt. Historisch und geografisch sei der Begriff „Abendland“ nicht haltbar und solle nicht genutzt werden.

„Luther sprach vom Morgenland“

Martin Luther nutzte in seiner Bibelübersetzung erstmals den Begriff „Morgenland“ (die Weisen aus dem Morgenland), In anderen Übersetzungen kommen die Sterndeuter aus dem Osten, daher, wo die Sonne aufgeht. Der Theologe Kaspar Hedio nutzte 1529 als erster den Begriff „christliche Abendländer“ als Gegenbegriff zu den „Morgenländern“. 1683 wurde der Begriff im heutigen Österreich zurzeit des Versuchs der Osmanen, Wien zu erobern, als Kampfbegriff benutzt. Teil der Wiener Identität sei noch heute die Vorstellung: „Wir haben am 12. September 1683 das Abendland beschützt.“ Dabei sei zum Beispiel der Kaffee – als türkischer Mocca verschmäht und dann doch als Wiener Mocca geschätzt – nach Abzug der Türken sehr beliebt geworden.

Einen Deutungswandel habe der Begriff im 18 Jahrhundert, zur Zeit der deutschen Romantik, erfahren, vom Kampfbegriff zum Kulturbegriff – so genutzt von Fichte, Schelling, Schleiermacher und Novalis. Karl der Große (von 800 bis 814 römisch-deutscher Kaiser des Heiligen Römischen Reiches) wurde zum Herrn eines christlichen Abendlandes stilisiert. „Das entspricht nicht den historischen Fakten“, betonte Jörgen Klußmann. Der Herrschaftsbereich Karls habe das heutige Deutschland bis zur Elbe, das Frankenreich und das heutige Italien umfasst, der Rest Europas war muslimisch, die iberische Halbinsel war 700 Jahre durch die Mauren geprägt. Osteuropa gehörte nicht dazu. Das Bild einer geografisch geschlossenen christlichen Hochkultur ist nicht belegbar. Die Einflüsse der arabischen Welt in Sprache, Architektur und Wissenschaft seien immer groß gewesen in Europa.

„Begriff unheimlich wandelbar“

Oswald Spengler habe den Begriff „Abendland“ ohne das Adjektiv „christlich“ genutzt, als Kampfbegriff gegen Slawen und Asiaten und in antisemitischer Haltung gegenüber Juden. Die Nationalsozialisten vereinnahmten den Begriff, sie sprachen von einer „Rettung des Abendlandes“. Unter Adenauer sei der religiöse Aspekt hinter der Kultur zurückgetreten. Mit „christlichem Abendland“ sei nun ein konservativ-bürgerliches Wertesystem gemeint gewesen als Gegenpol zum Kollektivismus der Sowjetunion und gegenüber der als zu frei erachteten individualistischen US-amerikanischen Gesellschaft. Im kalten Krieg stand das „christliche Abendland“ für den demokratischen Westen, das heißt Europa und Nordamerika, gegenüber der Sowjetunion.

„Der Begriff ‚christliches Abendland‘ war unheimlich wandelbar“, sagte Jörgen Klußmann. „Der Begriff wird immer benutzt, wie es gerade passt.“ Was macht den Begriff heute problematisch? Heute werde der Begriff von Rechtspopulisten als Vokabel in einer islamfeindlichen Haltung genutzt. Die Angst vor Islamisierung sei da am größten, wo die christlichen Bindungen am geringsten seien, sagte Klußmann. Nur Austausch und  Begegnung helfen zur Verständigung – und analoge Kommunikation, sprich ein direktes Gespräch.

Die Gesprächsgruppe war sich einig, dass es wichtig ist, sich über christliche Werte auszutauschen, aber ohne den Begriff „Christliches Abendland“. Schulreferent Matthias Weichert wies auf das Schulgesetz von Nordrhein-Westfalen hin. Die Schüler seien „nach christlichen und abendländischen Werten zu fördern“. Die christlichen Werte gelte es in den Blick zu nehmen. Was aber abendländische Werte sein sollen, darüber könne es keinen Konsens geben.