Integration bedeutet Identität, Teilhabe, Pluralität

Zur Identität Lebenssituation von Russlanddeutschen und Roma in Deutschland

Am 27. und 28. Juni 2014 beleuchtete eine Akademie-Tagung Identität und Lebenssituation von Russlanddeutschen und Roma in Deutschland und benannte Eckpunkte für das Verständnis und das Gelingen von Integration.

Pfarrer Edgar Born, Aussiedlerbeauftragter der EKvW. Foto: Blum

„Gelungene Integration setzt voraus, dass man diesen Prozess gemeinsam mit den Migranten gestaltet und sie als Handelnde des Prozesses anerkennt“, unterstrich der Aussiedlerbeauftragte der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW), Pfarrer Edgar Born, am Wochenende in der Evangelischen Akademie im Rheinland anlässlich seines Vortrags über die Situation von Russlanddeutschen. Vor allem müsse die Mehrheitsgesellschaft Zuwanderern mit einer Haltung des Respekts, nicht mit einer Haltung der Belehrung begegnen, so Born: „Das öffnet die Herzen“. Integration könne doch letztlich nur bedeuten, sich miteinander auf den Weg zu machen, um Kirche und  Gesellschaft gemeinsam zu gestalten.

Gelingende Integration ist keine Assimilation
Gelingende Integration sei deshalb nicht mit einer einfachen Assimilation der Zuwanderer gleichzusetzen, unterstrich Born, der seit 1995 für die Aussiedlerfragen bei der EKvW zuständig ist und sich zuvor bereits zu mehreren Begegnungsaufenthalte in Russland, u.a. in Kasachstan, aufgehalten hat. Es gehe darum, die Pluralität der Kulturen vernünftig zu gestalten, kulturelle Identitäten ebenso wie Chancengleichheit zu stärken und die Teilhabe und Mitwirkung der Migranten an gesellschaftlichen Handlungsfeldern zu fördern. Zugleich sei es wichtig anzuerkennen, dass Migranten zweifach beheimatet seien. Würde man ihnen dies aberkennen, könnten sie das Gefühl der Entwurzelung nicht überwinden: „Die Nationalität ist die Haut, in die du geboren wirst. Die kannst du nicht wechseln wie ein Hemd. Staatsbürgerschaften kann man wechseln, nicht aber die Nationalität.“ Menschen mit Migrationserfahrung könnten zugleich mehrere Kulturen in sich tragen, adaptieren und mischen.

Russlanddeutsche überdurchschnittlich gut integriert
Insgesamt habe sich im Blick auf die Gruppe der Russlanddeutschen die Situation gewandelt. Gegenüber den 1990er Jahren ist die Zahl der jährlichen Aussiedler  stark zurückgegangen. In den letzten Jahren kamen weniger als 2.000 pro Jahr in die Bundesrepublik, aktuell sind die Antragszahlen wieder steigend; sie liegen bei 4.000 Antragsstellern pro Jahr. Russlanddeutsche gelten nach neueren Studien als überdurchschnittlich gut integriert.

Die unterschiedlichen Generationen der Russlanddeutschen haben ihre je eigene Integrationsgeschichte
Inzwischen gibt es in Deutschland vier Generationen von Russlanddeutschen mit ganz unterschiedlicher Integrationsgeschichte. Die bereits hier Geborenen bezeichnet Born als die „verschwundene Generation“, die innerhalb der Mehrheitsgesellschaft nicht mehr ohne weiteres erkennbar sei. Für diejenigen, die als Jugendliche nach Deutschland gekommen sind bzw. kommen, die „mitgenommene Generation“, ist demgegenüber die biographische Situation besonders schwierig. Zeitgleich neben der Pubertät als allgemeiner Identitätskrise müsse diese Generation zugleich eine kulturelle Identitätskrise überwinden. Manche überwänden diese Krise, andere jedoch nicht, sie würden z.B. mit dem Gesetz in Konflikt geraten, hielt Born fest, wies aber zugleich auf die unterdurchschnittlichen Anteil von Russlanddeutschen an den aktuellen Kriminalitätsstatistiken hin.

„Wenn es die Kinder schaffen, ist der erlittene Abstieg ein zu duldender Preis“
Diejenigen, die als Erwachsene im erwerbstätigen Alter in die Bundesrepublik übersiedelt seien, hätten als „verlorene Generation“ den höchsten Preis für die Aussiedlung gezahlt. „In der Regel ist jede Auswanderung mit einem gesellschaftlichen Abstieg verbunden. Das nimmt die auswandernde Hauptgeneration in Kauf“, so Born. Russlanddeutsche seien stärker kollektiv geprägt als Deutsche, der familiäre Zusammenhalt sei stärker: „Wenn es die Kinder ‚schaffen‘, ist der erlittene Abstieg ein zu duldender Preis, den man zu zahlen bereit ist“. Damit stehen aber auch zugleich Kinder wie Erwachsene unter einem enormen Druck:“Sie sind zum Erfolg verdammt. Manche halten dem Druck nicht stand,“ so der Aussiedlerbeauftragte.

Aussiedler aus der Erwerbstätigen-Generation finden trotz Diplomen meist nur weniger qualifizierte und schlechter entlohnte Arbeit
Nach einer guten Ausbildung in Russland stünde die „verlorene Generation“  in Deutschland vor der Situation, dass ihre Diplome nicht anerkannt würden und sie weniger qualifizierte und schlechter entlohnte Arbeiten ausüben müssen, um die Familie zu ernähren. Als Sandwichgeneration seien sie nicht nur für die Jugendlichen, sondern auch für die Alten, die „übersehene Generation“ verantwortlich.

Die Hälfte der Aussiedler sind evangelischer Konfession
Ihre Verlustgeschichte setze sich auch in den Kirchengemeinden fort, kritisierte Born. Von den 2,4 Millionen Spätaussiedlern aus der ehemaligen UdSSR sind über 50% lutherisch, ca. 20% katholisch, ca. 7-10% orthodox und ca. 5% freikirchlich. 10% der Gemeindeglieder in der Evangelischen Kirche von Westfalen und in der Evangelischen Kirche im Rheinland  sind Spätaussiedler.

In der Volkskirche sind sie ein „übersehenes Geschenk“
Doch Russlanddeutsche würden in der Volkskirche als ein „übersehenes Geschenk“ behandelt, obwohl sie nur einen zahlenmäßigen Zugewinn, sondern darüber hinaus auch einen Zugewinn im Hinblick auf gelebten Glauben und Mitarbeit bedeuten könnten: „Amtshandlungen sind in vielen Gemeinden die einzige Form der Aussiedlerarbeit.“

Aussiedler machen in den aufnehmenden Gemeinden keine Mitgliedserfahrung
Es gebe keine auf neu aufgenommene Aussiedler zugeschnittenen Angebote. Das Umwerben der neuen Gemeindemitglieder, ein Vertrautmachen mit gemeindlichen Angeboten und Gepflogenheiten sei in den aufnehmenden Gemeinden nicht eingeübt, so Born. „Am Anfang stand oder steht ein Verwaltungsakt statt eines kirchlichen Aufnahmeritus“, bedauerte Born. So würden die Russlanddeutschen als neue Mitglieder ihrer Kirchengemeinden vereinnahmt von einer anonym bleibenden Kirche. In ihren Familien gebe es eine Erinnerung an lutherische Traditionen, doch sie würden in den neu aufnehmenden Gemeinden keine Mitgliedserfahrung machen.

„Bei euch sind noch Stühle frei, aber keine Plätze“
„Bei euch sind noch Stühle frei, aber keine Plätze“, habe ein Russlanddeutscher die Situation aus seiner Sicht beschrieben. Das führe dazu, dass die Russlanddeutschen passive Mitglieder ihrer Kirche werden, an den Angeboten nicht teilnehmen und nicht  zu den Veranstaltungen kommen. In diesem Verhalten bestehe dann letztlich kein Unterschied mehr zu einem Großteil der anderen Gemeindemitglieder. „Sie verhalten sich wie 90% der sonstigen Mitglieder“, so Born.

Merfin Demir: die Familie und die eigene Sprache sind Fixpunkte der Roma
Merfin Demir von Terno Drom e.V. , einer interkulturelle Jugendselbstorganisation von Roma und Nichtroma in Nordrhein-Westfalen, unterstrich wie Born die Bedeutung der Bewahrung der eigenen Kultur und Identität von Minderheiten bei Integrationsprozessen in einer Mehrheitsgesellschaft. So seien die Familie und die eigenen Sprache, das Romanes, wichtige allgemeine Fixpunkte der ethnisch-sprachlichen Minderheit der Roma.

Roma in Europa stellen zahlenmäßig starken Bevölkerungsanteil
Die Roma seien keine Randgruppe innerhalb Europas, betonte Demir. Heute leben 10 bis 12 Millionen Roma in Europa. Damit stellen sie eine zahlenmäßig größere Gruppe dar als z.B. die sich auf 8,5 Millionen belaufende Einwohnerschaft  von Österreich.

Die Traditionen und Werte der Roma unterscheiden sich je nach Region
Innerhalb der Roma herrsche allerdings eine kulturelle Pluralität, so Demir, der als Sohn muslimischer Roma in Mazedonien geboren wurde und als Kind nach Deutschland kam: „Die Traditionen und Werte der Roma unterscheiden sich je nach Region, aus der die Roma kommen oder ob sie Muslime oder katholische oder evangelische Christen sind.“

Es gibt keine zentralen Ansprechpartner unter den Roma
Deshalb gibt es unter den Roma kein explizites übergreifendes Wir-Gefühl, ihre Identität beziehen die Roma in erster Linie durch die Gruppe, zu der sie gehören. Eine Folge davon sei es, dass es für Romafragen keinen zentralen Ansprechpartner gebe. Ebenso müsse der Zugang zur Kultur der Roma immer neu erarbeitet werden.

Situation der Roma ist immer von dem Staat mitbestimmt, in dem sie leben
Der Situation der Roma werde immer von dem Staat mitbestimmt, in dem sie leben. So habe z.B. das damalige Jugoslawien, anders als Rumänien oder Bulgarien, eine aktive Minderheitenförderung betrieben. Eine Folge daraus ist, dass heute viele Balkan-Romas in der europäischen Romabewegung präsent sind. Auch die Alphabetisierungsquote ist stark von dem jeweiligen Land abhängig. Roma sind immer noch überdurchschnittlich häufig Analphabeten, der Anteil schwankt zwischen 20 und 50 Prozent je nach Staat.

Roma teilen den Alltag der Mehrheitsgesellschaft
Demir unterstrich, dass die Roma entgegen tradierter Bilder zu 90 % ein sesshaftes Leben führen. Dies gelte auch für die in Deutschland lebenden Zuwanderer aus Südosteuropa, die sich in der Regel im Alltag der Mehrheitsgesellschaft anpassen und ihre Kultur und Identität als Roma, u.a. aus Angst vor Stigmatisierung, nur innerhalb ihrer Familien leben. Viele von diesen Zuwanderern würden daher im Umgang  nicht mehr als Roma wahrgenommen, sondern z.B. als Türken, als Albaner oder Italiener.

Soziale Verwerfungen dürfen nicht verharmlost, aber auch nicht dramatisiert werden
Er räumte ein, dass es andererseits auch soziale Verwerfungen gibt, die nicht verharmlost, aber auch nicht dramatisiert werden dürften. In diesem Zusammenhang kritisierte er die Berichterstattung der Lokalpresse in Duisburg über das von Roma bewohnte Problemhaus in Rheinhausen. So sei das Bild mit der Müllansammlung vor dem Wohnblock ein Jahr lang durch die Medien gewandert, „als ob das Haus sich in dieser Zeit nicht verändert hätte.“ Demir zog auch die auf dem Foto dargestellte Realität selbst in Zweifel. Es gebe Stimmen, so Demir, dass hier nicht der Alltag, sondern eine Sperrmüll-Situation nach Auszug einer Familie abgebildet worden sei.

 

Vortrag als Download abrufbar
Der Vortrag von Merfin Demir ist am Schluss dieses Artikels zum kostenlosen Download bereit gestellt.

Über die Tagung
Born und Demir waren Referenten auf der 11. Godesberger Fachtagung für haupt- und ehrenamtliche Betreuerinnen und Betreuer von Inhaftierten im  Strafvollzug . Mit ihrem Thema „Interkulturelle Kompetenzen für den Strafvollzug“ trug die Tagung dieses Mal der Tatsache Rechnung, dass in den Vollzugsanstalten nicht nur Deutsche, sondern auch Menschen aus aller Welt einsitzen, die in der Bundesrepublik straffällig geworden sind. Für die haupt- und ehrenamtlichen Betreuer und Betreuerinnen stellt dies häufig eine besondere Herausforderung dar, weil sie sich mit fremdartigen Ansichten, Gewohnheiten und religiösen Riten auseinandersetzen müssen.